Wir haben inzwischen beschlossen, unsere Tochter niemals wieder einer öffentlichen Schule anzuvertrauen. Äußerlich wirkt Julia zu diesem Zeitpunkt müde und teilnahmslos, manchmal fast phlegmatisch. Hinzu kommen noch organische Beschwerden wie eine schlimme Magenschleimhautentzündung und eine durch den Stress ausgebrochene Neurodermitis. Rückblickend sagt Julia heute, sie habe sich unendlich abgespannt und verletzt gefühlt, eigentlich habe sie jeden Lebensmut verloren. Nichtsdestotrotz will sie ihr Abitur machen, denn sie will Sozialpädagogik studieren und später in der Behindertenberatung arbeiten. Den Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Lüneburg kennt sie bereits, da sie dort in einer integrativen Theaterwerkstatt mitarbeitet. Ihr Fall wird dort längst in den Lehrveranstaltungen diskutiert. Nach mehreren Monaten Ruhe beginnt sie wieder so wie sie angefangen hat: mit Hausunterricht. Trotz eines ärztlichen Attestes, dass Julia aus gesundheitlichen Gründen keine Regelschule mehr besuchen darf, wird der Antrag auf staatliche Anerkennung dieser Form der Beschulung vom Kultusministerium abgelehnt. Die eigenwillige Begründung: „ Da Ihre Tochter nicht mehr Schülerin einer Schule und darüber hinaus nicht mehr schulpflichtig ist, kommt auch eine Beschulung im Rahmen eines Hausunterrichts …… nicht in Betracht.“ Soll heißen: „Gebt endlich Ruhe, sie muss doch gar nicht mehr zur Schule gehen!“ Fazit: Das Abitur ist für einen Behinderten nicht vorgesehen. Zur Bestätigung dieser Auffassung sind dem Brief zynischerweise Broschüren über Ausbildungswege Behinderter ohne Abitur beigelegt.

Obwohl es Julia äußerlich wieder recht gut geht, fällt uns auf, dass sie sich nicht mehr so gut konzentrieren kann, wie wir es aus früheren Zeiten gewöhnt sind. Auch ihr ansonsten immer so ausgezeichnetes Langzeitgedächtnis lässt sie bisweilen im Stich. Die erste Leistungsüberprüfung nach Monaten steht sie nicht durch. Nun wird endlich das diagnostiziert, was ihr schon lange zu schaffen macht und mit Sicherheit die Folge ständig wechselnder unberechenbarer Bedingungen und jahrelanger Anspannung ist: eine massive Angsterkrankung mit schlimmen Panikattacken, die nicht nur körperliche Symptome wie Übelkeit, Atemnot und Schweißausbrüche auslösen, sondern auch das logische Denkvermögen komplett blockieren. Seit Anfang 2005 befindet sich Julia in fachärztlicher Behandlung. Nach Ansicht ihres Arztes besteht ihre Erkrankung schon jahrelang. Sie sei Folge der zahlreichen Situationen, denen sie hilflos ausgeliefert war. Sie habe besonders gelitten, da sie einen hohen Anspruch an sich selbst habe und sich immer mehr unter Druck setzte, obwohl sie – wenn ihre Behinderung unberücksichtigt blieb – nicht die leiseste Chance hatte.

Im Frühjahr 2006 gilt Julia von ärztlicher Seite als gesund genug, um ihr externes Abitur ablegen zu können. Schon das Betreten der vorgesehenen Schule – es ist das erste Mal nach mehr als zwei Jahren – bereitet ihr irrationale Ängste. Mitten im Abitur bricht sie mit schweren Angstzuständen zusammen! Die schulische Umgebung, allein schon der Geruch in der Schule, löst bei ihr sogenannte Flash – Backs aus, d.h. es tauchen immer wieder blitzartig Bilder früherer Situationen auf, die für sie erniedrigend und angsteinflößend waren. Die vorläufige Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung bestätigt sich später und wird ihr auch fachärztlich attestiert. Eine Schule darf sie nie wieder betreten!

Fazit: Unsere Tochter ist in eine psychische Krankheit integriert worden, unter der normalerweise nur Opfer von Kriegen, Verbrechen oder Katastrophen leiden!

Während unsere Tochter wieder mühsam um ihre seelische Gesundheit kämpft, feiert das Gymnasium Lüneburger Heide im Jahre 2006 unter reger Beteiligung der Landesschulbehörde das 20jährige Bestehen der Schule. Meine eigenen Recherchen ergeben, dass sich die Verhältnisse dort gegenüber 2003 enorm verschlechtert haben. Die Tatsache, dass von 33 im Sommer 2004 aufgenommenen Kindern nach 2 Jahren nur noch 17 übrig sind, spricht für sich. Zahlreiche Eltern sind unzufrieden, wollen meinen Zweifeln an der Lehrerqualifikation aber keinen Glauben schenken, weil sie gar nicht auf die Idee kommen, dass solche Missstände in Deutschland überhaupt möglich sind.

 

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